nine(birds)here
Chorwerke von Ian Wilson und Ivan Moody (Weltersteinspielungen)
November 2020
Ausführende
NDR Chor
Raschèr Saxophon Quartett
Philipp Ahmann (Dirigent)
3 Nominierungen für den OPUS KLASSIK 2021
- Welturaufführungen des Jahres
- Dirigent des Jahres
- Ensemble des Jahres
Kritiken
„(…) Although billed as “Works for Choir and Saxophone Quartet” in fact the first two pieces we hear are for nine-voice a cappella choir.
The first, Wilson’s „nine(birds)here“ is a setting of E. E. Cummings, with the two movements enjoying the magnificently neutral titles of “First Piece” and “Second Piece.”
(…) The performance is magnificently recorded and performed to the highest standard.
The NDR (North German Radio) Choir operates at that standard throughout.
(…) The otherworldly sound of the saxophone quartet, and the use of non-linguistic sounds, creates a completely different atmosphere for „Little Red Fish“ (2006). There is a near-sensual enjoyment in the joy of making the sounds themselves in the choral writing; the sax quartet seems the ideal complement. This time the poet is Oskar Kokoschka (taken from „Die träumenden Knaben“). When the saxophones achieve independence, there is something of a feeling of the joy of emancipation. The headier, repetitive, almost ritualistic feel to the piece is remarkable, while there are moments where gesture is all (as in the slowly descending saxophone lines, like droplets slowly finding their way down a windowpane).
And when the saxophones work as one, the texture is incredibly uniform.
All credit also is due to soprano Keiko Enomoto for her high solos.
From Ian Wilson to Ivan Moody we turn, then. Moody is a fascinating writer and composer.
(…) Unusually for Moody, the choir and saxophone quartet work „Moon and Suns“ does not set a sacred text. Instead, the words come from the Finnish Kalevala in an English translation by William Forsell Kirby. The 20-minute work implies a sense of timelessness; it somehow also feels ancient, despite its sometimes Modernistic harmonies. In addition, some of the melodic lines seem to reference the Orthodox liturgy.
The saxophones act as a complement, themselves a wordless choir, setting the mood for the various sections of the piece. The playing of the Raschèr Quartet is outstanding, particularly the crystal clear, expressive soprano sax of Christine Rall; but when they work as a unit, the lines intertwining, the effect is magical, the result of perfectly calibrated textures and perfectly smooth legato lines.
The modal world of „He who clothed himself with light“ (a setting of a Holy Week hymn) creates yet another microcosm. The choir alone now, the music takes on a decidedly ecclesiastical slant (melody and harmony are based on Byzantine chant).
Particularly praiseworthy here is the control of the high sopranos at a low dynamic; there is not a touch of strain or shrillness. The final work here, Moody’s „Aflame“, concentrates on the life of Saint Anthony the Great, who was a hermit in Egypt and is considered the ideal image of monasticism in his extreme abstinence, despite the temptations that Satan put in his way in the desert.
Aram Mikaelyan is a superb tenor soloist in this piece, but most impressive is the choir’s tuning, particularly, again, the upper voices.
These two composers seem to perfectly complement each other. Neither composer, surely, could ask for finer performances. The recording, in the Rolf Liebermann Studio at the North German Radio in Hamburg, simply could not be improved upon (it seems particularly effective through headphones).
Superb.
Colin Clarke, Fanfare Magazine, July/Aug 2021
Deutsche Übersetzung:
„(…) Obwohl es als „Werke für Chor und Saxophonquartett“ bezeichnet wird, sind die ersten beiden Stücke, die wir hören, tatsächlich für neunstimmigen A-cappella-Chor. Der erste, Wilsons „nine(birds)here“, ist eine Vertonung von E. E. Cummings, wobei die beiden Sätze die herrlich neutralen Titel „Erstes Stück“ und „Zweites Stück“ genießen. (…) Die Darbietung ist großartig aufgenommen und auf höchstem Niveau aufgeführt. Der NDR-Chor arbeitet durchweg auf derartigem Niveau.
(…) Der jenseitige Klang des Saxophonquartetts und die Verwendung nicht-sprachlicher Klänge schaffen für „Little Red Fish“ (2006) eine ganz andere Atmosphäre. Es liegt ein fast sinnlicher Genuss in der Freude, die Klänge im Chorsatz selbst zu machen; das Saxophonquartett scheint die ideale Ergänzung zu sein. Dichter ist diesmal Oskar Kokoschka (aus „Die träumenden Knaben“). Wenn die Saxophone unabhängig werden, gibt es so etwas wie ein Gefühl der Freude an der Emanzipation. Bemerkenswert ist das berauschende, sich wiederholende, fast rituelle Gefühl des Stücks, während es Momente gibt, in denen es nur um Gesten geht (wie in den langsam absteigenden Saxophonlinien, wie Tröpfchen, die langsam einen Weg eine Fensterscheibe hinab finden). Und wenn die Saxophone als Einheit arbeiten, ist die Textur unglaublich einheitlich.
Volle Anerkennung gebührt auch der Sopranistin Keiko Enomoto für ihre hohen Soli.
Von Ian Wilson wenden wir uns also um zu Ivan Moody. Moody ist ein faszinierender Schreiber und Komponist. (…) Ungewöhnlich für Moody: in „Moons and Suns“ für Chor- und Saxophonquartett vertont er keinen geistlichen Text. Stattdessen stammen die Wörter aus dem Finnischen Kalevala in einer englischen Übersetzung von William Forsell Kirby. Das 20-minütige Werk impliziert ein Gefühl von Zeitlosigkeit; es fühlt sich auch irgendwie wie aus alter Zeit stammend an, trotz seiner manchmal modernistischen Harmonien. Darüber hinaus scheinen einige der Melodielinien auf die orthodoxe Liturgie zu verweisen. Die Saxophone fungieren als Ergänzung, sind selbst ein wortloser Chor, der die verschiedenen Abschnitte des Stücks einleitet. Herausragend ist das Spiel des Raschèr Quartetts, insbesondere das glasklare, ausdrucksstarke Sopransaxophon von Christine Rall; aber wenn sie als eine Einheit arbeiten, die Linien ineinandergreifen, ist der Effekt magisch, das Ergebnis perfekt kalibrierter Texturen und perfekt geschmeidiger Legato-Linien.
Die modale Welt von „He who clothed himself with light“ (eine Vertonung einer Hymne der Karwoche) schafft einen weiteren Mikrokosmos. Der Chor nun allein, die Musik nimmt jetzt eine entschieden kirchliche Note an (Melodie und Harmonie basieren auf byzantinischen Gesängen). Besonders lobenswert ist hier die Kontrolle der hohen Soprane bei geringer Dynamik; es gibt keinen Hauch von Anstrengung oder Schrille. Das letzte Werk, Moodys „Aflame“, konzentriert sich auf das Leben des heiligen Antonius des Großen, der in Ägypten ein Einsiedler war und in seiner extremen Abstinenz trotz der Versuchungen, die Satan ihm in der Wüste in den Weg legt, als Idealbild des Mönchtums gilt. Aram Mikaelyan ist in diesem Stück ein hervorragender Tenorsolist, aber am beeindruckendsten ist die Intonation des Chors, insbesondere wiederum die der Oberstimmen. Diese beiden Komponisten scheinen sich perfekt zu ergänzen. Keiner der Komponisten könnte sich sicherlich bessere Aufführungen wünschen. Die Aufnahme im Rolf Liebermann Studio des Norddeutschen Rundfunks in Hamburg ist einfach nicht zu steigern (über Kopfhörer klingt sie besonders wirkungsvoll). Hervorragend.
Colin Clarke, Fanfare Magazine, Juli/Aug 2021
"(…) die Musik von Ian Wilson (*1964) ist patchworkartig strukturiert. Klangflächen überlappen sich, Harmonien deuten sich an und verschwinden, als würden sie einen Raum verlassen. Flüchtig ist diese Musik. Hier die Andeutung eines Flügelschlags, dort das Strömen eines warmen Windes. Das Album des NDR Chores unter Philipp Ahmann ist, wenn man so will, ein Experiment, in dem die menschliche Stimme auf den Klang des oder der Saxofone trifft. Wie durchdringen sich beide Sphären? Wie sehr nähern sie sich an? Welche Klangfarben entstehen aus der Kombination? Solchen Fragen geht das Album nach. Das Raschèr Saxophone Quartet kommt erst im vierten Track «Little Red Fish» von Wilson hinzu. (…) Die Worte des Oskar-Kokoschka-Textes werden zu Klangereignissen und Akzenten, die Übergänge zum Klang der Saxofone sind fließend. Saxofon und Stimme bilden eine Klangeinheit, wobei die Reibungen an den Begegnungsstellen von Wilson fast analytisch ausgereizt werden. Ein prickelndes Experiment.
Anders bei Ivan Moody (*1964). Im längsten Werk des Albums «Moons and Suns» führt das Saxofon-Quartett ins Geschehen ein. Man glaubt Vögel singen zu hören –Naturidylle –, dann kommt der Chor dazu mit einer elegischen Melodie, die einem Volkslied ähnlich ist. Der Chor übernimmt die Rolle des Erzählers, der Text stammt aus dem finnischen Nationalepos «Kalevala». In der von Moody gewählten Episode wird die Erde der Sonne und des Mondes beraubt – ein Symbol für den Missbrauch der natürlichen Ressourcen auf der Erde. In «Aflame» arbeitet er [Moody] mit Anklängen an den byzantinischen Kirchengesang. (…) Es sind in jedem Fall Schnittstellen, die auf dem Album thematisiert werden: Grenzerfahrungen geistiger und geistlicher Natur sowie klangliche Übergänge vom Instrument zur Stimme. Wenn man darin ein Experiment erblicken möchte, dann ist es überzeugend gelungen. Aber auch sonst ist die Aufnahme ein Ohrenkitzel, den man Track für Track und Schicht für Schicht vertiefen kann. Großes Lob!"
Ensembleklang *****
Interpretation *****
Haino Rindler, Chorzeit, Februar 2021
"Zwei hochoriginellen Komponisten der Gegenwart aus Großbritannien bot der NDR Chor vor einigen Jahren ein erinnerungswürdiges Forum. Was die beiden Komponisten außer dem gemeinsamen Geburtsjahrgang 1964 verbindet, ist die Empfänglichkeit für lyrische und epische Wortkunst und die Vorliebe für menschliche Stimmen. (…) Wilson wie Moody entdeckten für sich den Beziehungszauber, der zwei vermeintlich unverträgliche Klangfamilien quasi genetisch bindet: den gemischten Chor und das Saxofonquartett.
(…) So ist es kaum verwunderlich, dass das hochrenommierte Raschèr Saxophone Quartet etliche Komponisten mit Werkaufträgen für eben diese Besetzung betraute, darunter den Italiener Luciano Berio und den Esten Erkki-Sven Tüür. Entsprechend angeregt, ließen sich auch Wilson und Moody verführen, dem Gattungszwitter zu huldigen. (…) Philipp Ahmann, von 2008 bis 2019 künstlerischer Leiter des NDR Chors, zur Halbzeit seiner fruchtbaren, dem A‑cappella-Gesang zugeneigten Hamburger Jahre (…).
Die von Ahmann kenntnisreich erläuterte Edition, deren Aufnahmen 2014 und 2015 im Rolf Liebermann-Studio des NDR entstanden, koppelt kürzere Chorstücke beider Komponisten (Wilson vertonte lyrische Stenogramme von E. E. Cummings, Moody liturgische Dichtungen der Ostkirche) mit jeweils einer ausgedehnten Komposition für Chor und Saxofonquartett. (…)"
5 Sterne
Lutz Lesle, Das Orchester, Mai 2021
"Zwei britische Komponisten desselben Jahrgangs, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten: modern, aber nicht avantgardistisch der eine (Wilson), orthodox und archaisch der andere (Moody). Die Interpretationen des NDR Chors nimmt für beide gleichermaßen ein.
Zuallererst fällt bei dieser CD die äußerst intelligente Programmierung ins Auge: man nehme zwei britische Komponisten – den Nordiren Ian Wilson und den Engländer Ivan Moody –, die im selben Jahr, 1964, geboren wurden. Dann suche man sich jeweils drei Chorwerke dieser Komponisten aus: ein großes und zwei kleinere. Und die beiden großen Stücke bedienen zusätzlich noch ein relativ neues Genre, das zudem vom auf der CD – neben dem NDR Chor – aktiven Raschèr Saxophone Quartet ins Leben gerufen oder zumindest tatkräftig gefördert wurde: Chormusik mit Saxofonquartett. (…)
Die Aufnahmen entstanden 2014 bzw. 2015. Zu dieser Zeit war Philipp Ahmann noch Chefdirigent des NDR Chors; von ihm stammt auch der sehr kenntnisreiche Beihefttext und daher wahrscheinlich auch das Konzept der CD.
Sind Wilson und Moody auch Altersgenossen, so könnten ihre Klangsprachen doch kaum unterschiedlicher ausfallen. Diese Unterschiede manifestieren sich aufs Schönste in den beiden Werken mit Saxofonen.
Ian Wilson, der „modernere“ der beiden, orientiert sich gern an Bildender Kunst des 20. Jahrhunderts. Little Red Fish setzt einen äußerst sinistren aus Oskar Kokoschkas Die träumenden Knaben in Musik. Chor und Saxofonquartett bilden hier eine Einheit in Musik und auch Geräusch (Klappen der Instrumente, Konsonanten der Sänger), die in ihrer Intensität faszinierend anmuten kann (…) Wilsons zwei Werke für A-cappella-Chor, die hier vorgestellt werden, nine(birds)here und I carry your heart nach Texten von E. E. Cummings, wissen auf kleinerem Raum mindestens ebenso stark zu beeindrucken, insbesondere die birds, deren intrikate Harmonik dieses Diptychon länger wirken lässt als die tatsächlichen drei Minuten. Auf jeden Fall ist das Gespür Wilsons für einen dichten, gleichzeitig transparenten und stets der Stimme zugewandten Chorklang evident.
Das trifft auch für Ivan Moody zu, dessen Klangsprache jedoch blockhafter, archaischer wirkt. Folgerichtig bildet das Saxofonquartett in Moons and Suns nach einem Text aus dem finnischen Nationalepos Kalevala eine vom Chor klar abgegrenzte eigene Identität. Moody studierte bei John Tavener, und wie dieser benutzt er seine Musik vor allem, um seiner christlich-orthodoxen Religion künstlerischen Ausdruck zu verleihen – auf der Basis einer klaren, einfachen, tonalen Tonsprache, die gelegentlich wohl an Pärt und Tavener erinnert, ohne je epigonal zu wirken.
Der NDR Chor gibt mit seinen glasklaren Interpretationen ein überzeugendes Plädoyer für zwei Komponisten ab, deren Werke, so wenig spektakulär sie beim ersten Hören klingen mögen, letztlich im Gedächtnis haften bleiben."
5 Sterne
Thomas Schulz, Neue Zeitschrift für Musik, www.musikderzeit.de, April 2021